Bildung und Radikalisierung
Soziale Arbeit als Schlüssel zur kritischen Bildung
Die Diskussion um den Bildungsbegriff und die Prävention von Radikalisierung zeigt, dass diese Themen tief miteinander verknüpft sind. Bildung, verstanden als Befähigung des Einzelnen, sich in der Gesellschaft zu orientieren und aktiv mitzuwirken, ist nicht nur ein akademisches Konzept, sondern eine praktische Notwendigkeit – besonders in der Sozialen Arbeit. Der Vier-Stufen-Prozess von Randy Borum bietet einen hilfreichen Rahmen, um zu verstehen, wie Radikalisierungsprozesse ablaufen und wo Bildung ansetzen kann, um präventiv zu wirken. Besonders wichtig ist dabei die Rolle der Sozialen Arbeit, die sich ihres Bildungsauftrags oft nicht bewusst ist, aber in der Praxis eine Schlüsselrolle spielt.
Das Borum-Modell im Detail: Radikalisierung als sozialer Prozess
Randy Borum beschreibt Radikalisierung als einen stufenweisen Prozess, der oft mit sozialer Deprivation beginnt. Die ersten beiden Stufen – Missstand und Ungerechtigkeit – sind Phasen, in denen die betroffene Person einen Missstand erlebt und diesen als ungerecht empfindet. Dabei können wir häufig feststellen, dass es in der Gesellschaft durchaus einen breiten Konsens darüber gibt, was Missstände sind: Armut, Ungleichheit, Diskriminierung oder soziale Ungerechtigkeiten.
Doch was Borum besonders hervorhebt, ist, dass es vor allem die subjektive Wahrnehmung ist, die darüber entscheidet, ob ein Missstand zur Ungerechtigkeit wird. Hier spielt die individuelle Deutung eine zentrale Rolle: Einige Menschen akzeptieren bestimmte Missstände als gegeben, andere empfinden sie als tiefe Ungerechtigkeit, die sofortiges Handeln erfordert. Dies kann positive Veränderungen anstoßen – etwa in Form von sozialem Engagement – oder aber zu einem extremen, radikalen Handeln führen, wenn keine anderen Handlungsmöglichkeiten gesehen werden.
An dieser Stelle zeigt sich, wie wichtig eine kritische Bildung ist. Jugendliche, die lernen, wie sie ihre eigenen Erfahrungen reflektieren und einordnen können, sind weniger anfällig für extremistische Ideologien. Bildung bietet ihnen die Möglichkeit, ihre eigenen Ressourcen zu aktivieren, um aktiv an gesellschaftlichen Prozessen teilzunehmen, anstatt destruktive Wege zu wählen.
Externe Zuschreibung und Entmenschlichung: Der Wendepunkt zur Radikalisierung
Die Stufen drei und vier im Borum-Modell – externe Zuschreibung und Entmenschlichung – markieren den Übergang von einer reinen Analyse der eigenen Situation hin zur Feindbildkonstruktion. Menschen, die das Gefühl haben, benachteiligt zu werden, beginnen oft, die Schuld für ihre Lage externen Gruppen zuzuweisen. Diese Gruppen werden als Sündenböcke identifiziert und zunehmend als Feinde angesehen.
In der letzten Stufe, der Entmenschlichung, wird diese Gruppe so stark entwertet, dass Gewalt gegen sie als gerechtfertigt erscheint. Hier sehen wir, wie extremistische Akteure gezielt auf Stereotype und tradierte Feindbilder zurückgreifen, um Menschen in die Radikalisierung zu treiben. Diese Feindbilder sind oft historisch gewachsen und spielen eine zentrale Rolle in der Propaganda extremistischer Gruppen.
Bildung als präventives Werkzeug: Die Rolle der Sozialen Arbeit
Gerade hier zeigt sich die Verantwortung der Sozialen Arbeit. Der Bildungsbegriff, wie er von Wilhelm von Humboldt, Immanuel Kant und Theodor W. Adorno formuliert wurde, zeigt, dass Bildung nicht nur darauf abzielt, Wissen zu vermitteln, sondern den Einzelnen zu befähigen, aktiv und kritisch an der Gesellschaft teilzunehmen. Für Adorno ist Bildung immer auch ein Akt der Emanzipation, ein Prozess, durch den Menschen lernen, die Machtstrukturen zu hinterfragen, die ihr Leben bestimmen.
Diese kritische Perspektive ist besonders relevant, wenn es darum geht, Radikalisierungsprozesse zu unterbrechen. Die Soziale Arbeit steht oft an der Frontlinie in der Arbeit mit Jugendlichen, die sich in schwierigen sozialen oder emotionalen Situationen befinden. Es ist die Aufgabe der Sozialen Arbeit, Jugendliche nicht nur zu begleiten, sondern ihnen auch die Werkzeuge an die Hand zu geben, um ihre eigenen Wahrnehmungen von Ungerechtigkeit zu reflektieren und zu verstehen, wie gesellschaftliche Machtstrukturen funktionieren.
Soziale Arbeit als kritische Bildungsinstanz
Die Soziale Arbeit sollte sich ihres Bildungsauftrags bewusster werden und diesen als zentralen Teil ihrer Praxis begreifen. Es geht nicht nur darum, Menschen zu unterstützen, sondern darum, sie zu befähigen, sich selbst zu verstehen, ihre Rolle in der Gesellschaft zu reflektieren und kritisch mit den Missständen umzugehen, die sie erleben. Diese Befähigung ist eine Form von Bildung, die tief in den Ideen von Humboldt, Kant und Adorno verankert ist.
Gerade in der Arbeit mit Jugendlichen, die oft mit sozialer Deprivation und Diskriminierung konfrontiert sind, muss die Soziale Arbeit parteilich an der Seite der Jugendlichen stehen und ihnen dabei helfen, ihre eigenen Erfahrungen zu deuten. Durch eine kritische Bildung können sie lernen, dass es alternative Wege gibt, um auf Ungerechtigkeiten zu reagieren – und dass extremistische Ideologien nicht die Antwort sind.
Ein selbstbewusster Bildungsauftrag
Soziale Arbeit muss sich als Bildungsinstanz verstehen, die nicht nur Wissen vermittelt, sondern Menschen befähigt, kritisch zu denken, Machtstrukturen zu hinterfragen und ihre eigene Rolle in der Gesellschaft zu gestalten. Der Bildungsauftrag der Sozialen Arbeit ist nicht explizit im Gesetz verankert, aber er ist implizit vorhanden – er ergibt sich aus dem Grundsatz, den Menschen zu befähigen, mündig und selbstbestimmt zu handeln.
Dieser Bildungsauftrag ist besonders relevant in der Prävention von Radikalisierung. Das Borum-Modell zeigt, wie eng Radikalisierung mit der subjektiven Wahrnehmung von Ungerechtigkeit verbunden ist. Soziale Arbeit kann hier präventiv wirken, indem sie Menschen dazu befähigt, ihre eigene Situation kritisch zu hinterfragen und zu reflektieren. Bildung ist nicht nur ein Werkzeug zur Wissensvermittlung, sondern auch zur Befreiung und Emanzipation – ein Auftrag, den die Soziale Arbeit selbstbewusst wahrnehmen sollte.
Fazit: Soziale Arbeit als kritische Bildungsinstanz in der Radikalisierungsprävention
Der Bildungsbegriff der Aufklärung – von Humboldt, Kant und Adorno – zeigt, dass Bildung mehr ist als Wissensvermittlung. Bildung bedeutet, den Menschen zu befähigen, aktiv und kritisch an der Gesellschaft teilzunehmen. Dieses Verständnis von Bildung ist in der Sozialen Arbeit tief verankert und sollte als zentrale Aufgabe verstanden werden, insbesondere in der Arbeit mit Jugendlichen, die mit sozialer Deprivation und Ungerechtigkeit konfrontiert sind.
Das Vier-Stufen-Modell von Borum zeigt, wie Radikalisierung als Prozess der Erfahrung von Missständen und Zuweisung von Schuld beginnt. Soziale Arbeit kann diesen Prozess unterbrechen, indem sie Menschen befähigt, ihre Wahrnehmungen von Ungerechtigkeit zu reflektieren und alternative Handlungsmöglichkeiten zu finden. Dies ist keine rein theoretische Aufgabe, sondern eine zentrale Funktion der Sozialen Arbeit, die sich als Bildungsinstanz verstehen sollte.
Durch eine kritische Bildung, die Machtstrukturen hinterfragt und die Menschen zur Emanzipation befähigt, kann die Soziale Arbeit einen entscheidenden Beitrag zur Prävention von Radikalisierung leisten.