"Lass mal durchatmen und aufhören, Feindbilder zu produzieren – und vor allem keine antisemitischen Zerrbilder reproduzieren."

Von der Karikatur zur Hetze: Warum das Krake-Bild Antisemitismus verstärkt

Feindbilder, die wir nicht hinterfragen – und warum das gefährlich ist

Es gibt Bilder, die sich tief in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt haben – oft, ohne dass wir sie hinterfragen. Eines davon ist die Krake als Symbol für eine dunkle, manipulative Macht im Hintergrund.

Die Geschichte des Kraken-Narrativs

Das Bild der Krake als Symbol für unheilvolle Einflussnahme hat eine lange und problematische Geschichte. Schon im späten 19. Jahrhundert wurde es gezielt genutzt, um Verschwörungserzählungen zu verbreiten. Eines der bekanntesten Beispiele ist eine Karikatur aus dem Jahr 1882, in der der britische Imperialismus als Krake dargestellt wurde, die ihre Tentakel über die Welt ausstreckt. Die Metapher war dabei bewusst negativ besetzt: Die Krake stand für eine unaufhaltsame, gierige Kraft, die sich überall einnistet und systematisch Kontrolle ausübt.

Später wurde dieses Bild von antisemitischen Propagandisten übernommen. In der berüchtigten NS-Zeitung Der Stürmer tauchte die Krake wiederholt auf, oft mit einer übergroßen Nase und Geldsäcken in den Tentakeln – eine Anspielung auf die antisemitische Verschwörungserzählung, dass jüdische Menschen insgeheim die Weltwirtschaft kontrollieren. Auch in sowjetischer und arabischer Propaganda wurde das Motiv der Krake später benutzt, um vermeintliche jüdische oder westliche Einflussnahmen darzustellen.

Aber das Bild verschwand nicht nach 1945. Auch in der Gegenwart wird es immer wieder verwendet – nicht immer bewusst antisemitisch, aber doch stets mit dem Ziel, eine Form von illegitimer Einflussnahme zu suggerieren. Es findet sich in rechtsextremen Internetforen, in populistischen Wahlkämpfen und in medialen Debatten über „geheime Netzwerke“ und „Strippenzieher im Hintergrund“.

Die „Protokolle der Weisen von Zion“ und die Verankerung des Kraken-Narrativs

Besonders perfide ist die enge Verknüpfung des Kraken-Narrativs mit den Protokollen der Weisen von Zion, einem der einflussreichsten und zerstörerischsten antisemitischen Fälschungen der Geschichte. Diese Anfang des 20. Jahrhunderts in Umlauf gebrachte Schrift behauptete, ein geheimes jüdisches Komplott zur Weltherrschaft aufzudecken, und spielte eine zentrale Rolle in der antisemitischen Hetze des 20. Jahrhunderts.

In den Protokollen wird immer wieder die Idee transportiert, dass eine kleine Elite im Verborgenen die Welt lenkt – eine Vorstellung, die sich später in zahlreichen Verschwörungsmythen wiederfand. Die Krake als Symbol für eine allumfassende, unterwandernde Kontrolle passte perfekt in dieses Bild und wurde in der Folge systematisch in antijüdischen Karikaturen und Propagandamaterialien verwendet. Bis heute taucht das Narrativ in extremistischen Publikationen auf und dient als Blaupause für moderne antisemitische Verschwörungstheorien, die sich gegen jüdische Organisationen, internationale Institutionen oder wirtschaftliche Eliten richten.

Auch in der Zeit des Kalten Krieges wurde das Bild der Krake genutzt – diesmal mit der Sowjetunion als feindlichem Akteur. In westlichen Propagandamaterialien wurde die UdSSR oft als eine übermächtige, finstere Krake dargestellt, die sich in die Demokratien des Westens ausbreitet. In umgekehrter Weise wurde in sozialistischen Karikaturen der Kapitalismus als Krake gezeichnet, die mit ihren Tentakeln Arbeiterbewegungen stranguliert. Die Flexibilität dieses Bildes zeigt, dass es universell einsetzbar ist, um Feindbilder zu erzeugen – unabhängig von der politischen Ideologie derjenigen, die es verwenden.

Warum solche Bilder problematisch sind

Wenn Menschen oder Organisationen mit Kraken verglichen werden, dann soll damit oft ein Gefühl der Bedrohung erzeugt werden. Die Krake steht für etwas, das sich überall hineinzieht, das Einfluss nimmt, das in dunklen Kanälen operiert. Sie ist kein neutrales Symbol – sie ist eine Kampfansage.

Doch es geht noch weiter: Der Vergleich mit einem Tier ist nicht nur eine Metapher für Macht, sondern auch ein Instrument der Entmenschlichung. Die politische Theoretikerin Hannah Arendt hat beschrieben, dass die Entmenschlichung durch Tiervergleiche oft ein erster Schritt ist, um Gruppen oder Individuen aus dem gesellschaftlichen „Wir“ auszuschließen. Wenn Menschen nicht mehr als Individuen mit legitimen Interessen betrachtet werden, sondern als unkontrollierbare, manipulative Wesen – wie eine Krake, die ihre Tentakel ausstreckt –, dann ist das nicht nur diffamierend, sondern auch eine rhetorische Vorbereitung auf Diskriminierung und Ausgrenzung. Ähnliche Mechanismen finden sich in der politischen Geschichte immer wieder, wenn Gegner als „Ratten“, „Ungeziefer“ oder „Parasiten“ bezeichnet werden.

Die Dynamik der digitalen Verbreitung

In der heutigen Zeit hat sich das Problem weiter verschärft. In sozialen Medien werden Bilder und Narrative in einer Geschwindigkeit verbreitet, die frühere Propagandisten sich kaum hätten vorstellen können. Die Verwendung von Tiermetaphern und antisemitischen Symbolen taucht nicht mehr nur in extremistischen Publikationen auf, sondern kann durch Memes, manipulierte Bilder und gezielte Desinformation Millionen von Menschen erreichen.

Besonders gefährlich ist dabei, dass solche Bilder oft „ironisch“ verbreitet werden – eine Strategie, die darauf abzielt, ernsthafte Kritik abzuwehren, indem behauptet wird, es handle sich nur um einen Scherz. Doch genau darin liegt die Gefahr: Was als vermeintlicher Witz beginnt, normalisiert schrittweise ein Feindbild und macht es anschlussfähig für breitere gesellschaftliche Debatten.

Feindbilder lösen keine Probleme

Solche Feindbilder sind kein Zufall. Sie haben eine Funktion: Sie bieten einfache Erklärungen für komplexe gesellschaftliche Herausforderungen. Statt über strukturelle Probleme zu reden, über ungleiche Bildungschancen, über soziale Gerechtigkeit oder über effektive Politikgestaltung, wird eine Schuldige Instanz konstruiert.

Doch diese Strategie hat einen hohen Preis. Wer sich auf diese Art der Rhetorik einlässt, mag kurzfristig politischen Applaus bekommen – aber langfristig wird das gesellschaftliche Klima toxischer, der demokratische Diskurs verroht, und echte Lösungen treten in den Hintergrund.

Die Absicht zählt nicht – die Wirkung schon

Oft wird in Debatten darüber gestritten, ob eine bestimmte Äußerung oder Metapher so gemeint war, wie sie aufgefasst wird. Doch das ist nicht der Punkt. Sprache ist nicht neutral, und Bilder tragen Bedeutungen mit sich, die nicht einfach abgelegt werden können. Es spielt keine Rolle, ob jemand bewusst ein antisemitisches Zerrbild verwenden wollte oder nicht – die Reproduktion dieser Bildsprache sorgt für eine Kontinuität dieser Erzählungen.

Was dabei häufig übersehen wird, ist, dass Vorurteile und Diskriminierung nicht nur in extremen oder absichtlich verletzenden Formen auftreten. Vielmehr besteht die Gefahr, dass diese Ungleichwertigkeitsideologien nicht immer in klaren 1-zu-1-Ausprägungen existieren. Ein häufiges Missverständnis besteht darin, dass viele Menschen – gerade auch in der gesellschaftlichen Mitte – glauben, Antisemitismus, Rassismus, Sexismus oder antimuslimischer Rassismus seien immer nur in absoluten, greifbaren Formen vorhanden. Das bedeutet, dass diese Diskriminierungen entweder explizit und „offensichtlich“ sind – wie etwa eine rassistische Gewalttat oder ein antisemitischer Angriff auf eine Synagoge – oder eben nicht vorhanden sind. Diese Sichtweise legt nahe, dass solche Ideologien in einem einfachen „An/Aus“-Zustand existieren.

Die feinen und leisen Dimensionen der Ungleichwertigkeit

Doch in unserer Praxis erleben wir immer wieder, dass das eigentliche Problem nicht in der Anwesenheit oder Abwesenheit von Rassismus oder Antisemitismus liegt, sondern vielmehr in der Art und Weise, wie diese Ideologien in den Alltag eingeschleust werden. Vorurteile, Stereotype und Diskriminierung sind nicht immer „on“ oder „off“. Sie sind nicht immer in der Form von großen, extremen Taten oder Ereignissen sichtbar. Vielmehr sind sie auch in alltäglichen, unbewussten Momenten präsent – in den leiseren, subtileren Formen. Diese Dimensionen von Rassismus und Antisemitismus müssen als ein Kontinuum auf einer Skala verstanden werden, nicht als polarisierte Zustände.

Stellen wir uns vor, dass unser Umgang mit Ungleichwertigkeit wie ein Lautstärkeregler funktioniert. Es gibt Momente, in denen dieser Regler ganz laut aufgedreht ist – wie bei den lautstarken und sichtbaren Ausdrucksformen von Rassismus oder Antisemitismus, etwa bei einer rassistischen Hetzrede oder dem organisierten Hass gegen jüdische Gemeinden. Doch genauso existiert der Regler auch auf der leisen Stufe – in subtileren, unbeabsichtigten Formen von Diskriminierung, die weniger auffällig sind, aber ebenso präsent. Der Lautstärkeregler kann sich durch viele einzelne kleine Momente summieren: in rassistischen Bemerkungen, die im Alltag fallen, in unreflektierten Vorurteilen oder in den Bildern, die unbewusst reproduziert werden.

Die entscheidende Erkenntnis hier ist, dass es nicht nur darum geht, sich gegen die lauten, extremen Formen von Diskriminierung zu stellen. Wir müssen verstehen, dass auch die leisen Formen – die unbewussten und unbeabsichtigten – eine Macht besitzen, die mit der Zeit und im Zusammenspiel sehr laut werden kann. Es sind die vielen „leisen“ Momente der Vorurteile, die sich aufaddieren und das Grundrauschen einer Gesellschaft bilden. Und wenn wir nichts tun, bleibt der Lautstärkeregler nicht auf einer mittleren Stufe – wir wissen aus der Geschichte, dass er jederzeit weiter aufgedreht werden kann. Beim Antisemitismus hat sich das in der deutschen Geschichte in seiner extremsten Form gezeigt.

Warum es kein „An“ oder „Aus“ gibt – und warum das wichtig ist

Viele Menschen betrachten ihre eigenen Äußerungen oder Handlungen nicht als rassistisch oder antisemitisch, weil sie davon ausgehen, dass Diskriminierung nur dann existiert, wenn sie bewusst und aktiv ausgeübt wird. Doch genau hier liegt das Problem: Die Ablehnung von Rassismus oder Antisemitismus kann nicht in einem simplen „Ja“ oder „Nein“ existieren. Es ist vielmehr eine kontinuierliche Frage, inwieweit wir uns dessen bewusst sind, was wir selbst unbewusst weitertragen oder selbst reproduzieren.

Ein Ansatz, den wir in unserer Arbeit immer wieder verfolgen, ist daher die Erkenntnis, dass diese Ideologien und Diskriminierungen nicht „im Moment“ existieren, sondern dass sie sich durch fortwährende, oft unreflektierte Handlungen und Einstellungen manifestieren. Studien zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, wie sie immer wieder durchgeführt werden, sind letztlich nichts anderes als ein „Messwert“ für das „Grundrauschen“ einer Gesellschaft. Sie zeigen uns auf, wie stark diskriminierende Haltungen in den alltäglichen, unbewussten Momenten eines jeden Einzelnen verankert sind.

Warum wir reflektierter mit Sprache und Bildern umgehen müssen

Feindbilder sind bequem. Sie liefern einfache Erklärungen für komplexe Probleme. Doch genau das macht sie so gefährlich. Wer historische Zerrbilder nutzt oder unreflektiert übernimmt, trägt dazu bei, dass sich Ungleichwertigkeitsideologien fortsetzen. Das bedeutet nicht, dass jede Person, die eine problematische Metapher verwendet, automatisch eine diskriminierende Absicht hat – aber es bedeutet, dass wir uns der Wirkungen bewusst sein müssen.

Wir brauchen daher eine Sensibilität dafür, welche Bilder und Begriffe wir in der politischen und gesellschaftlichen Debatte verwenden. Das gilt nicht nur für Medien und politische Akteure, sondern für uns alle. Denn diskriminierende Strukturen bestehen nicht nur aus extremen Ideologien – sie setzen sich aus vielen kleinen, unbedachten Handlungen und Sprachmustern zusammen.

Bildung ist hier ein entscheidender Schlüssel. Wir müssen nicht nur Schüler:innen für diese Mechanismen sensibilisieren, sondern auch uns selbst – in Politik, Medien und Gesellschaft. Gerade politisch Verantwortliche sollten sich bewusst machen, dass Sprache Realität prägt. Sie sollten sich nicht an historisch belasteten Bildern bedienen, die Feindbilder befeuern, sondern zu einer differenzierten und sachlichen Auseinandersetzung beitragen.

Letztlich geht es nicht darum, Debatten zu verhindern, sondern sie konstruktiv zu führen. Ein demokratischer Diskurs lebt davon, dass Meinungen ausgetauscht werden – aber ohne dass dabei die Grundlagen des gesellschaftlichen Miteinanders untergraben werden.

Also: Einmal durchatmen. Und dann miteinander statt gegeneinander.

Welche historischen oder aktuellen politischen Bilder fallen euch ein, die ähnlich problematisch sind?

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