
Antisemitismus verstehen – Warum alte Feindbilder so anpassungsfähig sind
Die funktionale Dimension von Antisemitismus verstehen
Dieser Beitrag ist Teil unserer Reihe anlässlich des zehnjährigen Bestehens der Fachstelle Extremismusdistanzierung. In unserem Rückblick haben wir zentrale Meilensteine unserer Arbeit skizziert. Doch einige Themen verdienen eine tiefere Analyse – und keines ist so allgegenwärtig und historisch verankert wie der Antisemitismus. In diesem Beitrag beleuchten wir, warum antisemitische Narrative über Jahrhunderte hinweg Bestand haben und welche aktuellen Entwicklungen eine verstärkte Auseinandersetzung erforderlich machen.
Um dies zu verdeutlichen, lohnt sich ein Blick auf die IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus:
„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“
1. „Eine bestimmte Wahrnehmung von Juden“
Diese Formulierung wird häufig als zentraler Kritikpunkt an der IHRA-Definition genannt. Doch anstatt sie als Schwäche zu betrachten, verdeutlicht sie vielmehr ein grundlegendes Bildungsdefizit: Viele Menschen sind sich gar nicht bewusst, dass Antisemitismus keine Reaktion auf reale jüdische Menschen ist, sondern auf eine über Jahrhunderte gewachsene, konstruktive Erzählung über „den Juden“. Historiker wie Gavin Langmuir und David Nirenberg zeigen, dass der mittelalterliche Antijudaismus noch auf religiösen Differenzen basierte, während der Übergang zum modernen Antisemitismus mit Ritualmordlegenden und der Vorstellung eines allmächtigen jüdischen Gegners einherging. Diese bestimmten Wahrnehmungen wurden nie hinterfragt, sondern immer weiter tradiert.
2. „Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat…“
Antisemitische Ideologie verbreitet sich oft zunächst über Sprache – sei es in Form unterschwelliger Vorurteile, offener Feindbilder oder direkter Gewaltaufrufe. Besonders problematisch ist die schleichende Normalisierung antisemitischer Denkweisen durch Wiederholung und Relativierung. Gerade im sekundären Antisemitismus zeigt sich dies deutlich, wenn Gewalt gegen jüdische Menschen relativiert oder der Holocaust heruntergespielt wird. Durch diese schrittweise sprachliche Verfestigung wird der Boden für physische Gewalt bereitet.
3. „…gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen…“
Antisemitische Narrative treffen in erster Linie Jüdinnen und Juden. Doch sie richten sich ebenso gegen nicht-jüdische Personen, die im Zuge antisemitischer Verschwörungsmythen als Teil eines vermeintlich jüdischen Netzwerks gesehen werden. Diese Definition erfasst daher nicht nur direkte antisemitische Anfeindungen, sondern auch Fälle, in denen Menschen aufgrund von Zuschreibungen Opfer antisemitischer Hetze und Gewalt werden.
Die aktuelle Dringlichkeit – „Plan B“ für jüdisches Leben in Deutschland
Seit dem 7. Oktober 2023 hat sich die Situation für Jüdinnen und Juden in Deutschland dramatisch verändert. Die Angst vor Anfeindungen, Übergriffen und sozialer Isolation ist für viele allgegenwärtig. Immer mehr jüdische Menschen berichten davon, dass sie über einen „Plan B“ nachdenken – die Möglichkeit, Deutschland zu verlassen, weil sie sich hier nicht mehr sicher fühlen.
Diese Entwicklung ist alarmierend und muss als ein gesamtgesellschaftliches Versagen begriffen werden. Wenn Jüdinnen und Juden in Deutschland wieder überlegen, ob sie hier noch eine Zukunft haben, ist es nicht nur an der Zeit, den Antisemitismus konsequenter zu bekämpfen, sondern auch zu hinterfragen, wie tief antisemitische Denkmuster in unsere Gesellschaft eingebettet sind.
Denn Antisemitismus endet nicht erst dort, wo Gewalt beginnt. Er entfaltet seine Wirkung schon lange vorher – in alltäglichen Feindbildern, in der Sprache, in strukturellen Mechanismen, die Jüdinnen und Juden immer wieder in eine Sonderrolle drängen. „Nie wieder“ ernst zu nehmen, bedeutet, hier und jetzt den Fokus auf diese Entwicklung zu richten und sie entschieden zu adressieren.
Kollektivschuld als zentrales Element antisemitischer Wahrnehmung – Der 7. Oktober 2023 als Katalysator
Ein zentrales Muster des Antisemitismus ist die Vorstellung der kollektiven Verantwortung aller Jüdinnen und Juden für das Handeln einzelner Akteure oder Institutionen. Dieses Muster wurde nach dem 7. Oktober 2023, dem Terrorangriff der Hamas auf Israel, erneut in seiner vollen Wucht sichtbar. In Deutschland und weltweit wurden jüdische Menschen in Sippenhaft genommen – für Entscheidungen einer Regierung, mit der sie oft nicht einmal eine direkte Verbindung haben.
Während es in anderen politischen Kontexten selbstverständlich erscheint, zwischen Regierung und Bevölkerung zu differenzieren, ist dies bei jüdischen Menschen auffallend selten der Fall. Selbst wenn weltweit Proteste gegen das Vorgehen der US-Regierung stattfinden, werden nicht pauschal alle Amerikaner:innen für die Politik ihrer Regierung verantwortlich gemacht. Im Fall von Jüdinnen und Juden hingegen wird der Einzelne zur Projektionsfläche für kollektive Schuld – eine Denkweise, die sich tief in die Struktur antisemitischer Erzählungen eingeschrieben hat.
Dieses Mechanismus zieht sich durch die gesamte Geschichte: Schon im Mittelalter wurden jüdische Gemeinden kollektiv für wirtschaftliche Krisen oder Epidemien verantwortlich gemacht. Später wandelte sich diese pauschalisierende Wahrnehmung in die Vorstellung einer angeblichen jüdischen Weltverschwörung. Bis heute werden Einzelpersonen als „Beweise“ für vermeintliche jüdische Kontrolle herangezogen:
- George Soros als Symbol eines manipulativen Finanziers, der „die Weltpolitik steuert“
- Mark Zuckerberg als angeblicher Vertreter jüdischer Medienmacht
- Die Rothschilds als klassisches Feindbild eines jüdischen Bankennetzwerks
All diese Narrative folgen demselben Schema: Jüdinnen und Juden werden nicht als Individuen, sondern als Stellvertreter für eine konstruierte kollektive Identität betrachtet. Genau dieses Denkprinzip macht Antisemitismus so wirkmächtig – weil es unabhängig von Fakten immer wieder abrufbar bleibt.
Der 7. Oktober 2023 hat einmal mehr gezeigt, dass diese Struktur nicht nur ein historisches Phänomen ist, sondern eine reale Gefahr für jüdisches Leben in der Gegenwart darstellt. Es reicht nicht, erst zu handeln, wenn physische Gewalt eskaliert – der Kampf gegen Antisemitismus muss bereits dort ansetzen, wo diese Erzählungen entstehen und sich verfestigen.
Die Pandemie als Verstärker antisemitischer Narrative
Die Verschwörungserzählungen, die während der COVID-19-Pandemie aufkamen, zeigten bereits, wie tief antisemitische Denkmuster in Krisensituationen aktiviert werden können. Dieselben Mechanismen, die später im Nahostkrieg genutzt wurden, um Israel als geheimen Strippenzieher westlicher Mächte darzustellen, waren schon während der Pandemie sichtbar – wenn auch in einer anderen Form.
Zu Beginn der Pandemie fiel es selbst Expert:innen schwer zu erklären, wie sich eine Querfront aus rechtsextremen Gruppen, esoterischen Bewegungen und vermeintlich linken Alternativmilieus bilden konnte. Ein verbindendes Element war der Glaube an eine geheime Macht im Hintergrund, die Politik, Medien und Wissenschaft steuere und das Volk unterdrücke oder gar existenziell bedrohe. Diese Vorstellung wurde über verschiedene Narrative verbreitet – sei es durch die Annahme, dass Regierungen und Wissenschaftler:innen die Pandemie absichtlich herbeigeführt hätten oder dass eine globale Elite Impfstoffe als Kontrollinstrument benutze.
Historisch betrachtet ist dieses Muster nicht neu. Bereits während der Pestpogrome im Mittelalter wurden Jüdinnen und Juden beschuldigt, Brunnen vergiftet zu haben, um die nichtjüdische Bevölkerung zu dezimieren. Die Vorstellung, dass jüdische Akteure aus dem Hintergrund Epidemien auslösen oder kontrollieren, zieht sich durch Jahrhunderte europäischer Geschichte – und wurde während der Pandemie auf neue Weise reaktiviert.
Ein Beispiel für die Funktionsweise antisemitischer Wahrnehmungsmuster war die Diffamierung von Bill Gates. Obwohl er nicht jüdisch ist, wurde er in Verschwörungserzählungen als „globaler Strippenzieher“ dargestellt, der über seine Stiftung die Weltgesundheit steuere. Diese Erzählungen folgten genau demselben Schema wie klassische antisemitische Stereotype über „geheime jüdische Eliten“ – obwohl die Realität völlig anders war. Dies zeigt erneut, warum die IHRA-Definition von Antisemitismus so treffend ist: Es geht nicht um reale jüdische Menschen, sondern um eine bestimmte Wahrnehmung von Macht und Kontrolle, die sich immer wieder auf neue Personen oder Gruppen übertragen lässt.
Ein weiteres zentrales Element, das sich durch die Pandemie zog, war die Wissenschaftsfeindlichkeit als Einfallstor für Antisemitismus. Bereits im Nationalsozialismus wurden wissenschaftliche Erkenntnisse bewusst delegitimiert, wenn sie als Bedrohung für die eigene Ideologie galten. Ähnliche Muster waren während der Pandemie sichtbar: Wissenschaftler:innen wurden als Teil eines korrupten Systems dargestellt, das im Verborgenen agiere – eine Rhetorik, die nahtlos an antisemitische Verschwörungsnarrative anschloss.
Mit der Zeit nahmen die antisemitischen Chiffren während der Pandemie immer konkretere Formen an. Ein besonders perfides Beispiel war der „Ungeimpft-Stern“, den einige Maßnahmengegner:innen als Symbol verwendeten – eine direkte Anspielung auf den gelben Stern, den Jüdinnen und Juden unter den Nationalsozialisten tragen mussten. Durch solche Vergleiche wurde der Holocaust nicht nur relativiert, sondern es wurde auch eine Täter-Opfer-Umkehr betrieben: Diejenigen, die sich gegen staatliche Maßnahmen wehrten, stilisierten sich selbst als die eigentlichen Verfolgten, während sie reale antisemitische Narrative bedienten.
Die Pandemie hat damit nicht nur verdeutlicht, wie anschlussfähig antisemitische Verschwörungserzählungen über ideologische Grenzen hinweg sind, sondern auch, wie schnell sich alte Feindbilder in neuen Krisen reaktivieren lassen. Sie war eine Blaupause dafür, wie Antisemitismus nicht immer explizit beginnt, sondern oft schleichend durch Misstrauen gegen Institutionen, Medien und Wissenschaft verstärkt wird – und schließlich in offene Feindbilder umschlägt.
Islamismus und Antisemitismus: Der Mythos der jüdischen Weltverschwörung
Die Verschwörungserzählungen, die sich während der COVID-19-Pandemie über die QAnon-Bewegung ausbreiteten, griffen auf die älteste antisemitische Verschwörungserzählung überhaupt zurück: die Ritualmordlegende. Bereits 38 n. Chr. in Alexandria dokumentiert, wurde die Behauptung, Jüdinnen und Juden würden Menschenopfer darbringen und ihr Blut trinken, über die Jahrhunderte hinweg immer wieder aufgegriffen und in christlichen Kontexten mit Vorstellungen über die Reinszenierung der Kreuzigung Jesu Christi verknüpft. Diese Erzählung diente der Dämonisierung jüdischer Menschen und prägte das Bild des „bösen Juden“ – eine Wahrnehmung, die bis heute in antisemitischen Ideologien fortlebt.
Ein prägnantes Beispiel für die Übertragung dieser Stereotype in islamistische Strömungen ist der Denker Sayyid Qutb, einer der ideologischen Wegbereiter der Muslimbruderschaft. In seinem 1950 veröffentlichten Essay „Unser Kampf mit den Juden“ (Ma’rakatuna ma’a al-yahud) propagierte er die Vorstellung einer jüdischen Weltverschwörung und stellte das Judentum als einen ewigen Feind des Islam dar. Qutb griff dabei auf die bereits widerlegte und antisemitische Fälschung der „Protokolle der Weisen von Zion“ zurück, die angeblich geheime jüdische Pläne zur Weltherrschaft offenlegen sollte.
Bemerkenswert ist, dass Qutbs Antisemitismus nicht nur aus islamischen Traditionen gespeist wurde, sondern stark von europäischen, insbesondere christlichen, Verschwörungsideologien beeinflusst war. Seine Schriften fanden Eingang in zahlreiche islamistische Bewegungen und bilden bis heute die Grundlage für den Antisemitismus in vielen radikalislamischen Organisationen – darunter auch die Charta der Hamas, die bis 2017 direkte Bezüge auf die „Protokolle der Weisen von Zion“ enthielt.
Die Verbreitung dieser antisemitischen Verschwörungstheorien wurde maßgeblich durch die nationalsozialistische Propaganda vorangetrieben. Während des Zweiten Weltkriegs unterstützten die Nationalsozialisten gezielt die Verbreitung dieser Mythen im Nahen Osten. Eine Schlüsselfigur dabei war der Großmufti von Jerusalem, Amin al-Husseini, der enge Beziehungen zu führenden Nationalsozialisten unterhielt und aktiv an der antisemitischen Agitation in der arabischen Welt beteiligt war. Al-Husseini verbreitete nationalsozialistische Propaganda über Radioübertragungen und setzte sich für die ideologische Verbindung zwischen islamistischem und nationalsozialistischem Antisemitismus ein.
Diese historische Entwicklung zeigt, dass antisemitische Narrative keine singuläre Erfindung einer einzelnen Ideologie sind, sondern immer wieder neu adaptiert und in verschiedene gesellschaftliche und politische Kontexte eingeflochten werden. Der Mythos der jüdischen Weltverschwörung überwand ideologische und religiöse Grenzen – von mittelalterlichen Ritualmordlegenden über nationalsozialistische Propaganda bis hin zur heutigen Verbreitung in islamistischen Netzwerken.
Die Kontinuität dieser Erzählungen verdeutlicht, dass der islamistische Antisemitismus nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern in einem längeren historischen Prozess steht, in dem verschiedene antisemitische Strömungen ineinandergreifen. Das Verständnis dieser Verflechtungen ist entscheidend, um wirksam gegen antisemitische Ideologien in ihrer Gesamtheit vorzugehen.
Rechtsextremismus und Antisemitismus: Der Mythos der jüdischen Elite
Die Vorstellung, dass Jüdinnen und Juden das absolute Böse verkörpern, macht eine zentrale Besonderheit des Antisemitismus sichtbar: Während andere Ideologien der Ungleichwertigkeit auf Unterordnung oder Segregation abzielen, ist der Antisemitismus eliminatorisch. Das bedeutet, dass jüdisches Leben nicht nur abgewertet, sondern aktiv als Bedrohung konstruiert wird – mit der Konsequenz, dass seine Vernichtung als Notwendigkeit erscheint.
Diese Dimension zeigte sich besonders deutlich im historischen Rechtsextremismus der Nationalsozialisten. Während der NS-Ideologie galt der Jude als „zersetzende Kraft“, die das deutsche Volk und seine kulturelle Reinheit bedrohe. In dieser Vorstellung war jüdisches Leben nicht mit der nationalsozialistischen Ordnung vereinbar, weshalb es aktiv ausgemerzt werden sollte.
Im modernen Rechtsextremismus hingegen hat sich der Fokus verschoben. Während ältere rechtsextreme Bewegungen primär ihre eigene Nation über andere stellten, wandelte sich die Ideologie zunehmend in Richtung des Ethnopluralismus. Besonders die Neue Rechte und die Identitäre Bewegung haben das Konzept einer Weltordnung entwickelt, in der verschiedene „Völker“ voneinander getrennt bleiben sollen. Doch auch in diesem Konzept bleibt der Antisemitismus ein zentrales Element:
Die Erzählung vom „Großen Austausch“ ist eine dieser modernen Anpassungen. Sie behauptet, dass eine geheime jüdische Elite die gezielte Umvolkung Europas plane, indem sie Migration fördere und so die angeblich natürlichen „ethnischen Identitäten“ zerstöre. Damit haben sich antisemitische Verschwörungstheorien den neuen politischen Rahmenbedingungen angepasst: Während früher das Bild des „internationalen Finanzjudentums“ dominierte, wird heute suggeriert, dass jüdische Akteure Migration bewusst steuern, um „die europäischen Völker“ zu untergraben.
Diese Struktur macht den Antisemitismus nicht nur anschlussfähig an andere Formen der Diskriminierung, sondern stellt ihn gleichzeitig als eine Art Meta-Verschwörung dar, die verschiedene andere Feindbilder integriert.
- Rassismus gegen Migrant:innen? In der antisemitischen Erzählung sind nicht sie das Problem, sondern die Jüdinnen und Juden, die Migration „lenken“.
- Sozialer Verfall, ökonomische Ungleichheit oder kulturelle Dekadenz? Die Verschwörungstheorie besagt, dass all dies durch eine geheime jüdische Elite forciert werde, um die Gesellschaft zu schwächen.
Diese Wandelbarkeit des Antisemitismus zeigt sich über Jahrhunderte hinweg. Er passt sich an politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen an, behält aber stets seine Kernstruktur bei: die bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden als übermächtige, manipulative und destruktive Kraft. Diese Anpassungsfähigkeit macht ihn besonders gefährlich – denn wer Antisemitismus bekämpfen will, muss nicht nur gegen existierende Narrative vorgehen, sondern auch verstehen, wie sich diese Narrative in Zukunft weiterentwickeln könnten.
Der Bildungsauftrag, der sich daraus ergibt, ist essenziell: Antisemitismus ist keine starre Ideologie, sondern eine sich dynamisch verändernde Struktur von Feindbildern. Ihn zu bekämpfen bedeutet, diese Muster zu erkennen, historische Parallelen zu ziehen und Mechanismen der Reproduktion offenzulegen – genau so, wie es in den bisherigen Kapiteln dieses Textes geschehen ist.
Antisemitismus als Klammer verschiedener Ungleichwertigkeitsideologien
Eine der zentralen Funktionen des Antisemitismus liegt darin, gesellschaftlichen Wandel als Bedrohung zu konstruieren und ihn unter eine vermeintlich böse Absicht zu subsumieren. Damit bietet er eine scheinbar einfache Erklärung für komplexe Veränderungsprozesse und wird besonders von Gruppierungen genutzt, die sich dem Wandel kritisch bis feindlich gegenüberstellen.
Diese Dynamik zeigt sich in verschiedenen Bereichen:
1. Migration und gesellschaftlicher Wandel
Gesellschaften verändern sich durch Migration – ein Prozess, der für manche Menschen Unsicherheiten oder Ängste auslöst. Der Antisemitismus fungiert hier als Projektionsfläche, indem er suggeriert, dass dieser Wandel nicht organisch geschieht, sondern bewusst von einer im Verborgenen agierenden jüdischen Elite gesteuert werde. Dies ist die Grundlage der „Großer Austausch“-Erzählung, die behauptet, Migration werde gezielt genutzt, um europäische Gesellschaften zu destabilisieren. Die antisemitische Konstruktion ist dabei nicht nur ein Zusatz zum Rassismus, sondern hält diesen in sich zusammen, indem sie eine geheime jüdische Steuerung als Erklärung anbietet.
2. Antisemitismus als Mobilisierungsfaktor gegen progressive Werte
Ähnliche Muster lassen sich in Bezug auf Geschlechtergerechtigkeit und queere Rechte beobachten. Die zunehmende gesellschaftliche Anerkennung von LGBTQ+-Rechten und feministischen Forderungen wird in rechtsextremen, aber auch verschwörungstheoretischen Kreisen als „künstlich herbeigeführt“ betrachtet – und antisemitisch aufgeladen. Es wird behauptet, dass „jüdische Kräfte“ hinter einer angeblichen „Gender-Ideologie“ stehen, um traditionelle Werte und gesellschaftliche Strukturen zu zerstören. Diese Vorstellung ist nicht neu: Schon im Nationalsozialismus wurde die Frauenemanzipation als jüdische Verschwörung dargestellt, die das traditionelle Rollenbild untergrabe.
3. Wissenschaftsfeindlichkeit und Antisemitismus
Antisemitismus und Wissenschaftsfeindlichkeit sind eng miteinander verbunden. Immer wieder werden Wissenschaft und Medien als Teil eines angeblichen jüdischen Netzwerks dargestellt, das gezielt falsche Narrative verbreite. Dies war in der Pandemie zu beobachten, als Forschung und medizinische Expertise als „gesteuert“ diffamiert wurden. Aber auch aktuelle Entwicklungen zeigen diese Verbindung: In rechtspopulistischen Programmen tauchen Forderungen auf, Gender Studies oder Klimaforschung abzuschaffen – begleitet von antisemitischen Narrativen, die Wissenschaft als Werkzeug einer globalen Elite darstellen.
4. Antisemitismus in der wirtschaftlichen Transformation
Gerade vor dem Hintergrund kommender wirtschaftlicher und technologischer Transformationsprozesse wird diese Dynamik eine noch größere Rolle spielen. Die Energiewende, die Digitalisierung und der gesellschaftliche Umbau hin zu nachhaltigeren Wirtschaftsstrukturen werden in den nächsten Jahren zentrale Themen sein. Schon jetzt gibt es erste antisemitisch aufgeladene Erzählungen, in denen behauptet wird, dass die Transformation von einer jüdischen Elite gesteuert werde, um nationale Wirtschaften zu zerstören oder ganze Gesellschaften in Abhängigkeit zu halten. Historische Parallelen sind offensichtlich: Bereits in der Weimarer Republik wurden wirtschaftliche Krisen antisemitisch gedeutet, indem jüdische Bankiers als Strippenzieher hinter Inflation und Arbeitslosigkeit dargestellt wurden.
Antisemitismus als ideologisches Bindeglied Diese Beispiele zeigen, dass Antisemitismus mehr ist als eine von vielen Ideologien der Ungleichwertigkeit – er ist das ideologische Bindeglied, das verschiedene extremistische Strömungen zusammenführt. Er bietet eine universelle Erklärung für gesellschaftliche Veränderungen und macht ihn für rechte, islamistische, verschwörungstheoretische und auch einige linksextreme Gruppen anschlussfähig. Wo immer gesellschaftlicher Wandel als Bedrohung wahrgenommen wird, kann Antisemitismus als Erklärungsmuster dienen und damit radikalisierende Wirkung entfalten.
Dies bedeutet, dass Antisemitismus nicht nur rückblickend analysiert werden muss, sondern dass wir uns auch auf neue antisemitische Erzählungen einstellen müssen, die sich an kommende Krisen und Transformationsprozesse anpassen. Diese Muster frühzeitig zu erkennen und präventiv zu bearbeiten, ist eine der drängendsten Aufgaben der politischen Bildung und der Extremismusprävention.
Fazit: Warum Antisemitismus immer wiederkehrt – und was wir tun müssen
Abschließend lässt sich feststellen, dass Antisemitismus als wandelbares Erklärungsmuster für gesellschaftliche Krisen und Veränderungen dient. Aktuelle Entwicklungen verdeutlichen die Dringlichkeit, diesem Phänomen entschieden entgegenzutreten.
Dringlichkeit des Handelns
Die Zunahme antisemitischer Inhalte auf sozialen Medien ist alarmierend. Seit der Übernahme von Twitter durch Elon Musk im Oktober 2022 hat sich die Verbreitung judenfeindlicher Nachrichten auf der Plattform mehr als verdoppelt (faz.net). Musk selbst hat mehrfach antisemitische Anspielungen geteilt und Verschwörungstheorien verbreitet (tagesschau.de). Diese Entwicklung zeigt, wie schnell sich antisemitische Narrative in digitalen Räumen ausbreiten können, wenn Moderationsmechanismen fehlen oder bewusst gelockert werden.
Auch in politischen Diskursen finden sich besorgniserregende Tendenzen. Beispielsweise hat Donald Trump in einem Interview US-Vizepräsidentin Kamala Harris unbegründet des Antisemitismus beschuldigt (bild.de). Solche Aussagen tragen dazu bei, antisemitische Ressentiments zu schüren und gesellschaftliche Spaltungen zu vertiefen.
Bildungsauftrag
Angesichts dieser Entwicklungen ist es unerlässlich, antisemitische Erzählmuster frühzeitig zu erkennen und ihnen präventiv zu begegnen. Bildungsarbeit muss darauf abzielen, die Mechanismen und Wandlungsfähigkeiten des Antisemitismus zu vermitteln, um seine Anknüpfungspunkte in aktuellen gesellschaftlichen Debatten aufzudecken. Besonderes Augenmerk sollte dabei auf Transformationsprozesse wie die Energiewende und wirtschaftliche Umstrukturierungen gelegt werden, da diese Felder anfällig für antisemitische Verschwörungstheorien sind.
Nur durch eine umfassende Sensibilisierung und Bildung können wir verhindern, dass antisemitische Narrative weiterhin als vermeintliche Erklärungsmodelle für komplexe gesellschaftliche Veränderungen dienen.