Zitat über Wirkung von Prävention mit Mathieu Coquelin und Dr. Jens Ostwald im Newsletter Analyse.Macht.Haltung

Prävention neu denken: Vom Stufenmodell zur Präventionsarchitektur

Was wirkt wirklich? Neue Perspektiven auf Prävention und Wirkung

Prävention rückt ins Zentrum – aber wie?

Am 10. Juni 2025 präsentierte Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) den Jahresbericht des Bundesamts für Verfassungsschutz. Er betonte dabei:

„Da, wo wir Prävention leisten können, da dürfen wir nicht nachlassen.“

Im Bericht wurden insgesamt rund 57.700 Straftaten mit extremistischem Hintergrund registriert – ein Anstieg um knapp 46 Prozent. Der Anteil rechtsextremer Taten lag bei fast 38.000. Die Zahl der gewaltbereiten Rechtsextremen wurde mit über 15.300 beziffert, ein deutlicher Zuwachs im Jahresvergleich.

Diese Zahlen haben Gewicht – und hinterlassen im politischen Berlin ein lautes Echo. Die Frage stellt sich unmittelbar: Wenn nun zusätzliche Mittel ins Spiel kommen, wie können wir sicherstellen, dass sie wirksam eingesetzt werden?

Worum es in diesem Text geht

Dieser Text unternimmt den Versuch, eine unübersichtliche Debatte zu sortieren, die an verschiedenen Stellen Gefahr läuft, sich in interner Konkurrenz zu verlieren – und dabei in besten Absichten an sich selbst zu scheitern. Im Zentrum steht die Idee einer ganzheitlichen Perspektive auf Prävention, die sich nicht im Streit um einzelne Ansätze oder Zuständigkeiten erschöpft, sondern unterschiedliche Strategien als Teile eines gemeinsamen Mosaiks versteht.

Prävention hat viele Adressat:innen – und viele Ziele: Manche Ansätze wirken langfristig in der politischen Bildung, andere kurzfristig in Gefährdungskontexten. Manche setzen an Radikalisierungsursachen an, andere an der Legitimation von Gewalt. Dass sich diese Zugänge teilweise widersprechen oder aus ganz unterschiedlichen Professionen heraus entwickelt wurden, ist kein Mangel – sondern Ausdruck einer notwendigen interdisziplinären Realität.

Dieser Text will deshalb drei Dinge:

  • Er will helfen zu verstehen, warum unterschiedliche Zugänge zur Prävention existieren – und weshalb es sinnvoll ist, sie nebeneinander zu ermöglichen.
  • Er will eine neue Metapher für Prävention vorschlagen, die diese Vielfalt abbildet, ohne Beliebigkeit zu fördern.
  • Und er will dort, wo in der politischen Debatte vorschnell Bewertungen getroffen werden, eine Lanze brechen für das Sortieren statt Diskreditieren.

Nicht alles kann überall wirken. Aber wenn Mittel fließen sollen, ist jetzt der richtige Zeitpunkt zu fragen: Was brauchen wir wirklich? Und wie investieren wir es sinnvoll?

Was ist eigentlich Prävention? Eine begriffliche und strategische Klärung

Prävention als politisches Versprechen

Prävention gilt in politischen Programmen häufig als Zukunftsversprechen – als Symbol für Strategie statt Reaktion, für Steuerung ohne Härte. In manchen Förderphasen konnte sie sogar als Eintrittskarte in politische Aufmerksamkeit gelten – unabhängig von der tatsächlichen Ausrichtung der Maßnahme.

Aus der Praxis erinnern wir uns gut an Zeiten, in denen es in der Jugendarbeit kaum möglich war, einen Ausflug mit Jugendlichen zum Kanufahren zu finanzieren – selbst dann, wenn er pädagogisch sinnvoll war. Doch sobald das Ganze in ein Konzept zur Gewalt- oder Extremismusprävention gegossen wurde, standen auf einmal Mittel für Kanus, Anhänger und Transport bereit – obwohl sich an der praktischen Arbeit wenig geändert hatte.

Dieses Beispiel steht sinnbildlich für eine Ambivalenz: Einerseits ist es erfreulich, dass Prävention überhaupt politische Anschlussfähigkeit entwickelt – gerade in einer Gegenwart, die zunehmend von Law-and-Order-Rhetorik und repressiven Reflexen geprägt ist. Andererseits zeigt es, wie schnell das Label Prävention in strategischen Zuschreibungen verpuffen kann, wenn es nicht durch fachliche Substanz unterfüttert ist.

Umso wichtiger ist eine präzise Debatte darüber, was Prävention wirklich leistet – und wie sie sich von beliebiger Etikettierung unterscheidet. Denn wirkungsvolle Prävention ist voraussetzungsvoll, vorausblickend, interdisziplinär – und selten spektakulär. Sie verdient mehr als eine Platzhalterfunktion im politischen Förderdiskurs.

Pauschale Urteile helfen hier wenig: Prävention ist nicht per se gut, genauso wenig wie Repression grundsätzlich schlecht ist. Beide haben – je nach Kontext – ihre Funktion und Berechtigung.

Weil wir jedoch keine Expert:innen für repressive Maßnahmen sind, sondern für pädagogische Prozesse, politische Bildung und Distanzierungsarbeit, möchten wir im Folgenden einen genaueren Blick darauf werfen, was unter Prävention verstanden wird – und was nicht.

Prävention ist nicht gleich Prävention

Wer von „Prävention“ spricht, meint nicht immer dasselbe. Zwischen dem Vorschulprogramm zur Demokratieförderung, der Antigewalttrainingsgruppe im Jugendvollzug und der Ausstiegsberatung für radikalisierte Erwachsene liegen Welten – und doch firmieren alle unter dem gleichen Begriff. Genau hier beginnt ein zentrales Missverständnis: dass Prävention als einheitliche Strategie gedacht wird, obwohl sie in Wahrheit ein Spektrum höchst unterschiedlicher Ansätze beschreibt.

Diese Vielfalt ist kein Zufall, sondern Folge der unterschiedlichen Bezugspunkte, die Prävention adressieren kann: Zielgruppen, Zeitachsen und Zuständigkeiten. Während primärpräventive Formate oft Kinder und Jugendliche ansprechen, bevor überhaupt ein Risiko sichtbar wird, zielen sekundär- oder tertiärpräventive Maßnahmen auf Personen mit konkreten Auffälligkeiten oder Gefährdungslagen. Je näher man sich der potenziellen Tat annähert, desto spezifischer und enger wird der Adressatenkreis – und desto konflikthafter auch die Zielsetzungen, Methoden und Erwartungshaltungen.

Dass diese Ansätze sich manchmal widersprechen oder in Konkurrenz geraten, ist kein Fehler, sondern Ausdruck ihrer unterschiedlichen Funktion: Prävention ist kein einheitliches Rezept, sondern ein Feld vielfältiger Werkzeuge. Was jedoch fehlt, ist ein klares Vokabular, das diese Vielfalt nicht verwischt, sondern sichtbar macht – sowohl für die Fachpraxis als auch für politische Entscheidungsprozesse.

In der politischen Diskussion wird diese Unterscheidung häufig unterschlagen. Wer „Prävention stärken“ will, muss auch beantworten: Welche Form? Mit welchem Ziel? Für wen? An welchem Punkt? Und mit welchem Maßstab für Erfolg?

Von primär bis tertiär – klassische Logik

In der Fachpraxis wie in der Förderlogik hat sich die Einteilung in primäre, sekundäre und tertiäre Prävention über Jahrzehnte etabliert. Sie geht davon aus, dass Prävention entlang einer Zeitachse zur Gefahrenabwehr organisiert ist: je früher, desto besser. Auch wenn dieses Stufenmodell weiterhin Orientierung bietet, greifen seine Kategorien im Kontext radikalisierungsbezogener Prävention häufig zu kurz – sowohl analytisch als auch strategisch.

Primärprävention zielt auf möglichst breite Bevölkerungsgruppen. Sie soll demokratische Haltungen stärken, Resilienz gegenüber extremistischen Ideologien aufbauen und menschenfeindlichen Einstellungen vorbeugen. Politische Bildungsformate, Empowerment-Arbeit oder auch schulische Demokratieförderung zählen in diese Kategorie – unabhängig davon, ob in der Zielgruppe konkrete Problemlagen bestehen.

Sekundärprävention richtet sich an Menschen oder Gruppen, bei denen erste Warnsignale sichtbar sind: etwa die Orientierung an verschwörungsideologischen Weltdeutungen, wiederholte Grenzüberschreitungen in Schule oder Jugendhilfe oder die Zugehörigkeit zu einem problematischen sozialen Umfeld. Sie ist deutlich konkreter ausgerichtet und erfordert eine erhöhte Sensibilität für Dynamiken, die eine weitere Radikalisierung begünstigen können.

Tertiärprävention schließlich adressiert Personen, die bereits in extremistische Strukturen eingebunden waren oder sich klar menschenfeindlich positioniert haben. In diesem Bereich geht es um Distanzierungsarbeit, Deradikalisierung und Rückfallvermeidung. Oft geschieht sie in Tandems von Sozialarbeit und Sicherheitsbehörden, zumeist in spezialisierten Beratungsstellen.

Doch auch wenn dieses Stufenmodell auf den ersten Blick logisch erscheint, ist es in der Anwendung nicht immer eindeutig: Nicht jede Bildungsmaßnahme mit großem Publikum ist automatisch Primärprävention, nicht jede Maßnahme mit biografischem Fokus automatisch Tertiärprävention. Vor allem in Übergangszonen – etwa bei Jugendlichen mit Radikalisierungsrisiko, die sich jedoch (noch) nicht klar positionieren – geraten diese Kategorien an ihre Grenzen.

Hinzu kommt: Die institutionelle Zuschreibung einer Maßnahme zu einer Präventionsebene ist nicht nur analytisch, sondern auch förderpolitisch relevant. Oft konkurrieren Akteur:innen um Fördermittel, je nachdem, ob sie eher allgemeine Demokratieförderung oder spezifische Distanzierungsarbeit leisten. Dabei entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen Breitenwirkung und Tiefenwirkung – oder wie es in einem Interview hieß: „Wer den Nazi auf der Straße bekehrt, bekommt mehr Aufmerksamkeit als jemand, der Jugendliche für Vielfalt begeistert.“

Insgesamt bleibt festzuhalten: Die primär-sekundär-tertiär-Logik bietet ein praktikables Raster, um Maßnahmen zu sortieren – wird aber zunehmend durch komplexere Modelle ergänzt, die nicht nur den Zeitpunkt, sondern auch die Zielgruppenlogik, die Nähe zur Ideologie und die soziale Dynamik differenzierter erfassen wollen. Das im nächsten Kapitel beschriebene Zonenmodell greift diesen Bedarf auf.

Prävention als Zonenmodell – ein neuer Blick auf Nähe, Verantwortung und Wirksamkeit

Prävention wird häufig entlang einer Stufenlogik gedacht: primär – sekundär – tertiär. Dieses Modell hat sich bewährt, weil es Orientierung bietet. Es beschreibt, wann im Prozess Menschen erreicht werden sollen – bevor ein Risiko entsteht, wenn ein Risiko sichtbar wird oder nachdem eine konkrete Gefährdung eingetreten ist. Doch diese Einteilung bleibt statisch. Sie geht von klaren Grenzen aus, wo in der Realität meist Übergänge, Ambivalenzen und Überlagerungen bestehen.

Deshalb schlagen wir eine neue Metapher vor: Prävention als Zonenmodell.

Kaum eine Gruppe ist vollständig frei von Berührungspunkten zu solchen Mustern. Antisemitische Stereotype, rassistische Erzählmuster, sexistische Alltagslogiken oder Verschwörungsnarrative finden sich – in sehr unterschiedlicher Ausprägung – in fast allen gesellschaftlichen Milieus. Das bedeutet: Prävention beginnt nicht erst dort, wo eine Gefahr sichtbar ist. Sondern dort, wo diese Anschlussstellen sichtbar gemacht und bearbeitet werden können.

In der Grafik lässt sich das nachvollziehen: Die schwarzen Flecken stehen für ideologische Durchdringungen. Sie sind unregelmäßig, asymmetrisch, dringen tief in die äußeren Zonen ein – und markieren damit, dass auch Menschen in vermeintlich „neutralen“ Kontexten bereits Teil von Diskursfeldern sein können, die Gewalt begünstigen.

Das Modell hilft dabei, Zielgruppen nicht nur nach Risiko, sondern auch nach Ansprechbarkeit und Einflussmöglichkeit zu differenzieren. Es macht zudem deutlich: Es gibt Maßnahmen, die unbeabsichtigt präventiv wirken, ohne explizit als Prävention konzipiert zu sein – etwa durch soziale Stabilisierung, Empowerment oder Bildungsangebote. Umgekehrt gilt: Wer präventiv handelt, muss auch begründen können, wie und warum eine präventive Wirkung zu erwarten ist. Jede Maßnahme, die unter dem Label Prävention gefördert wird, braucht daher eine fachlich plausible Wirkannahme – etwa durch eine nachvollziehbare Verortung im Zonenmodell.

Wer so denkt, versteht Prävention nicht als Instrument zur Schuldabwehr, sondern als Teil einer gemeinsamen Verantwortung: für das, was Gewalt möglich macht – und für das, was Menschen davor schützt.

Abwertung, Ideologie, Gewalt – ein dynamisches Dreieck

Wenn wir über Gewalt sprechen, denken viele zuerst an körperliche Übergriffe, Hetze oder Anschläge. Doch Gewalt ist meist nicht der Anfang, sondern das Ergebnis – ein Eskalationspunkt in einer längeren Kette von Deutungen, Zuschreibungen und Grenzverschiebungen. Wer Prävention ernst nimmt, muss deshalb auch über die Voraussetzungen von Gewalt sprechen – und über die Wechselwirkungen zwischen Abwertung, Ideologie und Gewaltakzeptanz.

Diese drei Faktoren bilden ein dynamisches Dreieck, das sich je nach Kontext unterschiedlich ausprägt, aber fast immer dann sichtbar wird, wenn Menschen Gewalt als legitim, notwendig oder sogar moralisch begründet erleben.

  1. Abwertung meint die systematische oder habituelle Herabsetzung anderer – sei es durch Sprache, Haltung, Narrative oder soziale Praxis. Sie zeigt sich in Witzen, die entmenschlichen, in Zuschreibungen, die diskriminieren, oder in Ausschlüssen, die als normal gelten. Abwertung ist der Nährboden, auf dem Ideologie andocken kann.
  2. Ideologie ordnet diese Abwertung in ein Weltbild ein. Sie bietet Struktur, Erklärung und Begründung: Warum es „die anderen“ gibt, warum „wir“ bedroht sind, warum es „notwendig“ ist, sich zu „wehren“. Ideologien geben dem Diffusen eine Richtung – sie machen aus Stimmung Überzeugung.
  3. Gewalt schließlich ist die Handlungsebene – als Ausdruck, als Durchsetzung oder als Konsequenz. Nicht jede Ideologie führt automatisch zu Gewalt. Aber jede gewaltlegitimierende Ideologie braucht die vorgelagerte Abwertung, um Gewalt plausibel erscheinen zu lassen. Wo Gewalt stattfindet, wurde vorher meist schon lange entwertet und begründet.

Das Entscheidende: Dieses Dreieck ist kein festes Schema. Es beschreibt keine Reihenfolge, sondern ein Feld wechselseitiger Verstärkung. Gewalt kann Abwertung hervorrufen. Ideologie kann auch ohne Abwertung wirken – etwa über romantisierende Zukunftsvisionen. Und Abwertung kann ganz ohne Ideologie auftreten – z. B. aus sozialem Druck, Gruppendynamik oder unsicherer Identität.

Für die Prävention bedeutet das: Es reicht nicht, Gewalt zu verhindern. Es geht auch darum, die Normalisierung von Abwertung zu unterbrechen – und die Anschlussfähigkeit von Ideologien zu reflektieren. Prävention muss dort ansetzen, wo Gewalt möglich wird, nicht erst dort, wo sie droht.

Ein Beispiel aus der Praxis: Vielschichtige Intervention im schulischen Raum

Das vorgestellte Zonenmodell legt nahe, Radikalisierung nicht nur als individuellen Prozess zu verstehen, sondern als ein Geschehen, das sich in unterschiedlichen Erfahrungsräumen, sozialen Gefügen und ideologischen Atmosphären entfaltet. Die Komplexität dieser Dynamiken lässt sich exemplarisch an einem schulischen Fallbeispiel veranschaulichen, in dem es zu rassistischen Äußerungen unter Jugendlichen kam – öffentlich gemacht und weiterverbreitet über Social Media.

Ausgangslage: Ein rassistischer Vorfall in einer Schulklasse

In einer achten Klasse äußern sich mehrere Jugendliche in Chatgruppen sowie im Unterricht abwertend gegenüber einer Mitschülerin mit Migrationsgeschichte. Die Aussagen reichen von stereotypen Andeutungen bis hin zu offenen rassistischen Beleidigungen, einige davon mit strafrechtlich relevantem Inhalt. Eine dieser Aussagen wird über Social Media verbreitet, was die Situation zusätzlich eskaliert.

Die Reaktion: Ein multiprofessionelles Interventionsgeflecht

Anstatt sich für eine singuläre Maßnahme zu entscheiden, erfolgt eine Kombination von präventiven und intervenierenden Strategien entlang verschiedener Zonen:

Mit der gesamten Gruppe wird sozialpädagogisch gearbeitet, um Gruppendynamiken, Ausgrenzungsmechanismen und Rollenbilder zu reflektieren. Ziel ist es, das soziale Klima zu stabilisieren und kollektive Verantwortungsübernahme zu fördern (Zone der sozialen Kontexte).

Einzelne Jugendliche, bei denen die abwertenden Einstellungen besonders verfestigt sind, erhalten ein zusätzliches Distanzierungsangebot. In einigen Fällen erfolgt dies über direkte Ansprache im Sinne eines individualisierten Distanzierungsdialogs, flankiert durch Bezugspersonenarbeit oder durch Einbindung spezialisierter Akteur:innen (Zone ideologischer Verankerung, potenzieller Distanzierungsbedarf).

Die Institution Schule erhält Unterstützung durch eine mobile Beratungsstelle, die gemeinsam mit der Schulleitung Strategien zur nachhaltigen Auseinandersetzung mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit entwickelt. Dazu gehört auch eine Einbettung des Falls in ein umfassenderes Demokratieverständnis (Zone institutioneller Rahmung und struktureller Prävention).

Für das Lehrkräfteteam wird eine Fortbildung organisiert, etwa über die Landeszentrale für politische Bildung, um pädagogische Handlungsfähigkeit im Umgang mit menschenfeindlichen Äußerungen zu stärken (Zone der Fachprofessionen).

Für die gesamte Klasse wird ein Workshop zur Medienkompetenz durch das Landesmedienzentrum angeboten, um Mechanismen digitaler Eskalation, Desinformation und Diskriminierung zu verstehen (Zone medialer Resonanzräume).

Ein Elternbrief, abgestimmt mit der polizeilichen Präventionsstelle, informiert über den Vorfall, den strafrechtlichen Rahmen und die schulischen Maßnahmen. Ziel ist Transparenz, aber auch Sensibilisierung für rechtliche Konsequenzen (Zone familialer Verantwortung und rechtlicher Einbindung).

Ein Elternabend bietet Raum für Fragen, Austausch und Aufklärung – auch um potenzielle Abwehrhaltungen abzubauen und den Bildungsauftrag der Schule zu verdeutlichen.

Die Betroffenenperspektive: Schutz und Sichtbarkeit

Besondere Aufmerksamkeit erhält im gesamten Verlauf die Perspektive des betroffenen Mädchens und ihrer Familie. Sie wird frühzeitig durch eine schulische Vertrauensperson und externe Fachberatung begleitet. Es wird darauf geachtet, dass sie nicht erneut exponiert wird – etwa durch separate Gesprächsformate und Rücksprache zu Maßnahmen. Gleichzeitig wird ihr aktiv vermittelt, dass ihre Erfahrungen ernst genommen werden und institutionelle Schutzmechanismen greifen. Auch psychosoziale Entlastung wird angeboten, um nicht nur situativ zu reagieren, sondern langfristige Folgen zu vermeiden (Zone der individuellen Resilienz und Anerkennung).

Die Würdigung der Betroffenenperspektive wird so zum festen Bestandteil einer ganzheitlichen Prävention – nicht als Zusatz, sondern als tragende Säule. Denn Prävention ist nicht nur Täter:innenarbeit, sondern auch Raum für Solidarität, Reparatur und die Wiederherstellung sozialer Integrität.

Differenz als Stärke

Dieses Beispiel zeigt exemplarisch: Wirksame Prävention kann nicht in einer Maßnahme bestehen, sondern entsteht durch das Zusammenspiel unterschiedlichster Akteur:innen – aufeinander abgestimmt, aber nicht gleichgerichtet. Prävention in diesem Sinne ist nicht nur Schutz vor Gewalt, sondern auch Stärkung von Beziehungen, Reaktionsfähigkeit und demokratischer Alltagskultur. Die Stärke liegt dabei in der Differenz: Jede Intervention erfüllt einen eigenen Zweck, adressiert andere Zonen – gemeinsam aber ermöglichen sie einen wirksamen Rahmen für Veränderung.

Im Zentrum des Modells steht die Gewalttat – nicht nur als körperlicher Akt, sondern als Eskalationspunkt ideologischer, emotionaler und sozialer Prozesse. Um dieses Zentrum herum liegen drei Zonen:

  • Die Zone der Tertiärprävention: Hier befinden sich Menschen mit klarer Ideologiebindung oder Gewalterfahrung. Es geht um Distanzierung, Ausstieg, therapeutische oder sozialpädagogische Intervention.
  • Die Zone der Sekundärprävention: Hier begegnen wir Jugendlichen mit ersten Kontaktpunkten zu extremistischen Inhalten, Gruppen oder Weltdeutungen – oft in Krisen, in Übergängen oder in Suchbewegungen.
  • Die Zone der Primärprävention: Hier wird breite, lebensweltnahe Arbeit geleistet – in Kitas, Schulen, Familien, Jugendarbeit, politischer Bildung. Es geht um demokratische Resilienz, Teilhabe, Schutzfaktoren.

Doch das Entscheidende ist: Diese Zonen sind nicht sauber voneinander getrennt,  vor allem deshalb, weil extremistische Ideologien in allen Phasen der Radikalisierung und deshalb auch auf allen Präventionszonen wirken – wenn auch mit unterschiedlicher Intensität.

Ideologie ist kein homogener Block, der nur im innersten Bereich auftritt. Im Gegenteil: Über Abwertungsdynamiken, Vorurteile und Stereotype wirken ideologische Muster bis an die Ränder gesellschaftlicher Kommunikation hinein. Sie können subtil oder deutlich spürbar sein – und sie schaffen Anschlussstellen, über die sich Narrative verfestigen oder weiterverbreiten.

Von der Flickenteppich-Metapher zur Präventionsarchitektur

Die gegenwärtige Debatte um den Ausbau von Maßnahmen gegen Rechtsextremismus droht an der eigenen Komplexität zu scheitern. Zu oft wird Prävention entlang politischer Koordinaten oder institutioneller Zuständigkeiten diskutiert – und nicht entlang ihrer Wirksamkeit im sozialen Raum. Was wir jedoch brauchen, ist eine Verständigung auf eine gemeinsame Grundidee: dass Prävention nicht monolithisch, sondern vielgestaltig ist – mit verschiedenen Zielgruppen, Wirklogiken und Zeitperspektiven – dabei jedoch immer mit einem klaren Verständnis davon, wie sie wirkt.

Der Artikel hat dafür eine neue Metapher vorgeschlagen: Statt linearer Stufenlogiken oder gegeneinander abgegrenzter Ansätze braucht es ein Zonenmodell, das Prävention als dynamisches Gefüge versteht. Ein Modell, das anerkennt, dass nicht nur potenzielle Täter:innen, sondern auch deren Umfeld, Betroffene von Ideologien, soziale Räume und institutionelle Strukturen adressiert werden müssen – teilweise parallel, teilweise sequenziell, aber immer miteinander verschränkt.

Die dargestellte Fallskizze macht deutlich, wie vielfältige Akteure ineinandergreifen können, ohne dass dabei ein Ansatz „richtiger“ oder „zuständiger“ wäre als ein anderer. Es ist gerade die Komplementarität der Perspektiven – sozialpädagogisch, politisch bildend, strafrechtlich, institutionell beratend –, die gesellschaftliche Resilienz gegen menschenfeindliche Ideologien stärkt.

Prävention in diesem Sinne ist weder harmonisch noch konfliktfrei. Sie ist eine Praxis des Aushaltens von Widersprüchen, der Vermittlung zwischen Betroffenen- und Täter:innenperspektiven und der ständigen Reflexion über die eigenen Wirkannahmen. Dafür braucht es Räume für Koordination, aber auch Mut zur Dezentralität – und vor allem eine politische Debatte, die diese Komplexität nicht als Problem, sondern als Ausdruck demokratischer Handlungsfähigkeit versteht.

Die Vorstellung, dass es „den einen“ richtigen Präventionsansatz geben könne, ist eine Illusion. Was es braucht, ist ein präziseres Verständnis darüber, was wo warum wirkt – und wo nicht. Ein solches Verständnis entsteht nicht durch Mittelvergabe allein, sondern durch Haltung, Praxisreflexion, interdisziplinären Dialog und wissenschaftliche Evaluation. Genau diesen Beitrag wollte der Artikel leisten.

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